Als ich meine systematische Ausbildung zur Führungskraft begonnen habe, stand immer die Führung von anderen auf der Tagesordnung und im Mittelpunkt. Das mag am System gelegen haben, in dem ich Führung von der Pike auf gelernt habe, möglicherwiese lies auch der „Zeitgeist“ der 80er und 90er Jahre keine anderen Perspektiven zu. Führungskräfte waren direktiv, gute Manager hatten mindestens zwei Magengeschwüre… Ich möchte nicht unterschlagen, dass zu der Zeit Begriffe wie „Work-Life-Balance“ die Runde gemacht haben, aber ein integraler Bestandteil der Führungskultur waren sie seinerzeit nur für die wenigsten. Heute ist die Führungswelt bunter, sie lässt mehr Blickwinkel zu, experimentiert und traut sich etwas. Agile Führung, gesunde Führung oder digitale Führung gehören zum Sprachgebrauch und auch die Selbst- oder Lebensführung findet mittlerweile ihren Platz im Kontext guter Führung. Das ist gut so, denn gute Führung funktioniert von innen nach außen. D.h., dass Selbstführung eine unabdingbare Voraussetzung für die Führung von anderen und die Führung eines Unternehmens ist.
Selbstführung wird unterschätzt
Das Problem ist, dass genau hier die meisten Führungskräfte gerne über sich hinweg schauen und sich auf das Verhalten der anderen konzentrieren. Dabei steckt so viel Potenzial in der Selbstführung, so viele Erklärungen für das menschliche Verhalten könnten geliefert werden und so viele Fehler im Miteinander könnten vermieden werden. Richtig gelesen. Am Ende des Tage geht es um die Wirkung auf andere, die ihre Ursache in unserer Persönlichkeit hat. Bin ich mir der Ursache nicht bewusst, geht die Wirkung immer nur in eine Richtung, die nötige Flexibilität im Umgang mit anderen fehlt und Führung findet eigentlich nur für den Typ Mitarbeiter statt, der der Führungskraft sehr ähnlich ist. Frei nach Steve Jobs könnte die Welt dann in Bozos und A-Players aufgeteilt werden. Ziemlich schwarz-weiß, dabei ist die Welt doch viel bunter, oder?
Selbstwahrnehmung
Zu undurchsichtig? Dann etwas analytischer: Selbstführung braucht Selbstkompetenz. Selbstkompetenz ist in erster Linie die Frage nach dem eigenen Typ, dem „Wer bin ich?“ oder, etwas sachlicher, der Selbstwahrnehmung. Dass uns eine eineindeutige Aussage dazu schwer fällt, kann man mit der Frage nach den eigenen Stärken und Schwächen bemessen. Die Antwort darauf fällt vielen Menschen schwer, Führungskräfte eingeschlossen. Meist treffe ich dann auf halb durchdachte Aussagen, die, entsprechend hinterfragt, zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Selbstwahrnehmung ist gerade deshalb so wichtig, weil sie den Mittelpunkt des „Ich“ definiert, weil sie wie ein Referenzpunkt funktioniert, von dem jede Interaktion ausgeht. Es ist gut, wenn man diesen Mittel- oder Referenzpunkt kennt, der ein von Rollen losgelöstes Selbstbild beinhaltet und mindestens die Antwort auf die eigenen Stärken und Schwächen gibt.
Selbstreflexion
Selbstkompetenz beinhaltet ebenso eine gehörige Portion Selbstreflexion. Während Selbstwahrnehmung den Blick auf das „Ich“ im eingependelten Ruhe- oder Normalzustand erlaubt, ist Selbstreflexion notwendig, um die Flexibilität und Grenzen des Ichs in der Interaktion auszuloten. Wir reagieren anders, wenn wir z.B. unter Druck geraten. Unser „Normalprofil“ verschiebt sich in der Regel und wird zum „Stressprofil“. Selbstreflexion macht es möglich, die Unterschiede zum Normalprofil zu erkennen und einzuordnen. Wenn ich unter Druck gerate, dann werde ich kleinteiliger, genauer und fange an Erbsen zu zählen. Als selbstreflektierte Führungskraft kann ich dann erklären, warum ich von meinen Mitarbeitern auf einmal Detailinformationen verlange, was mich üblicherweise gar nicht interessiert.
Selbststeuerung
Der letzte Teil der Selbstkompetenz ist die Selbststeuerung. Die ist notwendig, um nicht mit einem fest fixierten Persönlichkeitsprofil jede Situation meistern zu müssen, sondern flexibel auf Menschen und Situationen einzugehen. Als gute Führungskraft mit hoher Selbstkompetenz und entsprechender Selbstführung ist das Einstellen auf einen Mitarbeiter das A und O. Das funktioniert nicht anders herum, auch wenn das manche Führungskräfte von ihren Mitarbeitern erwarten. Damit Selbststeuerung funktioniert, sind Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion wichtige Helfer. Der Referenzpunkt dient als Maßstab für die „Entfernung“ zum Profil des Mitarbeiters, das Stressprofil inkludiert den situativen Rahmen, in dem sich die Führungskraft befindet. Selbststeuerung ist das Zubewegen auf den Typ Mitarbeiter unter Beachtung der eigenen Möglichkeiten. Um in meinem Beispiel unter Druck zu bleiben, verkürzt meine stressbedingte Detailverliebtheit auf einmal den Weg zu einer Mitarbeiterin, die genau diese Details für ihre Arbeit braucht. Eine gute Führungskraft kann die Details natürlich auch im eingeschwungenen Zustand liefern, obwohl sie vielleicht nicht zum Standardsetting gehören.
Selbstführung braucht Selbstkompetenz, die sich aus Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion und Selbststeuerung zusammensetzt. Gute Führungskräfte kennen sich selbst sehr gut und gehen variabel mit Menschen und Situationen um. Sie wissen, was ihr eigenes Persönlichkeitsprofil hergibt und was den Rahmen der eigenen Authentizität sprengen würde. In diesem Fall findet eine gute Führungskraft einen Workaround, der auf den Möglichkeiten der selbstkompetenten Persönlichkeit beruht. Und da Führung von innen nach außen funktioniert, ist Selbstführung die Grundlage für die weiteren Ebenen von Führung. Dann funktioniert es auch mit der mentalen Fitness.